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HÖRZU + ZERREIßPROBE

Offbeat-Liedermaching und Straßenmusik - CD September 2015

Die CD hat keinen Titel. Ich nenne sie mal GESCHICHTENMUSIK FÜR LEUDE.

Das ist ein Tonträger von Leuten aus den Reihen der rotzfrechen Kultur (RAK). "Hörzu" ist eine eigenständige Gruppe bestehend aus Häinz, Mik und Lio. Ein gutes eingespieltes Team, welches bei Konzerten stets durch fröhliche Frechheit zu begeistern weiß. Das kommt oft gut an, vielleicht auch wegen dem Kontrast zu vielen anderen RAK-Künstler_innen, die mehr auf Betroffenheit und eigene Identität setzen. Bei "Zerreißprobe" wird dieses"Hörzu-Konzept" nicht nur personell erweitert, sondern auch dadurch, dass hier durchaus balladenartige Passagen einfließen, die den Humor brechen oder umgekehrt. "(...)Das bittere aber herzliche Lachen vor dem Hintergrund der Gesamtscheiße(...)" wie Lio es selbst beschreibt in einer E-Mail an mich. Wer Zerreißprobe nun genau ist, ist auf der CD nicht wirklich nachzulesen. Die Selbstbeschreibung lautet: "Ein überregionales Musikkollektiv mit grenzenlosen Ideen. Eine musikalische Positionierung, ein Spiegel für die bestehenden Verhältnisse und eine Wut in Tönen mit 6 Händen, 6 Fäusten und 6 Stimmen." Hier soll die geneigte Leserin/der geneige Leser schon mal nachdenken. 6 Stimmen ist ja erstmal klar, das sind dann 6 Leute, aber 6 Fäuste und 6 Hände??! Wie sieht das denn aus? Und wer macht dabei jetzt was? Solche "Nachdenk-Formulierungen" sind typisch auch für das Songwriting der CD, welches offenbar größtenteils von Lio vorgenommen wurde, der auch viele Songs selbst singt. Ansonsten ist zu lesen, dass Alex Bass spielt, Eli für die Drums verantworlich ist und live habe ich gesehen, dass auch Momo und Eule an Geige/Stimme und Gitarre/Stimme mit von der Partie sind.

Das Artwork/Layout kommt im Comicstyle daher. Ein Bild mit einer wilden Truppe von musikmachenden und krakelenden Freaks in Echsenhaut. Im weiteren Umfeld ein paar Klischeefaschos mit Hitlerbärtchen, Glatze und Deutschlandfahne, sowie ein niedlich gezeichneter Bulle mit Funke. Damit ließe sich durchaus ein Kinderbuch gestalten. Es gab in den letzten Jahren auch andere Veröffentlichungen von RAK-Künstler_innen, die ähnlich gestaltet waren. Scheint irgendwie Trend zu sein. Mir persönlich ist das ein bisschen zu "lieb".

Ansonsten findest du alle Texte, die zu hören sind nochmal in schriftlicher Form und das war es dann auch schon mit dem Booklet, welches als Leporello daherkommt. Dazu ein Standard-Plastik-Jewel-Case als Schutz.

Track 1 geht direkt flott los. Hörzu spielt den "Straßenmusiksong". Schneller Ska-Rhythmus mit Melodica-Melodie. "Wir führen Krieg mit Straßenmusik!" heißt es da und es wird beschrieben, was dir bei der Straßenmusik so alles wiederfährt. Ein guter Opener, der mich das erste Mal schmunzeln läßt. Die beschriebene Atmosphäre wird noch ergänzt durch Informationen, dass Straßenmusik durchaus vielerorts reglementiert wird. Am Ende wird der Song noch wütender und heftiger als Antwort darauf. Sehr schön! Der zweite Song ist auch von Hörzu. Passt gut an den ersten musikalisch. Beschwingt und ska/reggeamäßig flirtet sich der Sound zu den (dem) Menschen, die (den) du magst. Gleich am Anfang begeistern ein paar schöne Triller-Vocals. Bei so einem Wort wie "Panamakanal" lässt sich das gut machen, mußte aber auch draufhaben. Schicker Singalong. Ich staune über die Zeile "du bist der Bud Spencer neben all den Terence Hill." Mir sind diese beiden Namen ja mehr als vertraut, aber das war ja auch meine Kindheit/Jugend, die Filme kommen aus der Zeit Anfang der 70er bis Anfang der 80er, zu der Zeit waren die Mitglieder von Hörzu noch nicht einmal geplant, schätze ich. However.

Als drittes hören wir den ersten Song von Zerreißprobe. Das Thema heißt PEGIDA (patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). Fängt halbwegs witzig an mit der Idee, diese "Wutbürger" mal ausgiebig mit Ohrfeigen zu versorgen, bis schließlich die Einsicht einkehrt, dass das verdammt nochmal zu viele sind. Melancholische ruhige Klavierbegleitung, die den Humor fast zu unterdrücken weiß. Und dann wird es eher ernst und analytisch, am Ende visionär, was wieder halbwegs Spaß macht. "Halbwegs" schreibe ich deshalb, weil mir die erste Refrainzeile nicht gut reinläuft. "Dies ist ein Aufruf gegen Gewalt" wird da gesungen. Das kannst du natürlich auf verschiedene Arten interpretieren. Entweder als einen Aufruf gegen die Gewalt der PEGIDA-Bewegung oder eben als einen Aufruf gegen den Versuch, PEGIDA mit (physischer) Gewalt (Ohrfeigen als Symbol dafür) zu begegnen. Zerreißprobe geben die Antwort, indem sie sagen, was sie wollen: "Willkommensfeste für Flüchtlinge, Einwohner vernetzen, die Angst nehmen (...)". Da schwindet dann plötzlich der Humor, aber es wird gleichzeitig musikalisch entschlossener. Das gefällt, aber mein fader Beigeschmack bleibt, weil mir dieser uneindeutige Aufruf gegen Gewalt zu nah dran ist an all den kategorischen Pazifist_innen, mit denen ich mich als Befürworter "politischer Gewalt" in den letzten 30 Jahren schon zu oft rumgestritten habe. Darüberhinaus gefällt mir nicht, dass die politischen Gegner_innen hier den Stempel "dreiste Chaoten" bekommen. Das ist eigentlich die Benennung, die konservative Kräfte vornehmen, wenn sie "UNS" meinen. Hey, und finde das 'nen hübschen Titel für uns. Please stop the Begriffsvermengung and the Worteentwertung.

Es schließt sich ein mehrstimmiger Gesang an. Das ist eine große musikalische Stärke von Zerreißprobe. Die Gesänge sind eindrucksvoll arrangiert und werden auch live sehr gut und sauber performt. Der Refrain geht unter die Haut: "I have no states in my mind and I go where I want to. I have a friend, she lives behind Europe, New York and Toronto. She also has no states in mind but she can't go where she wants to, because she's not born in the right place of the planet. I don't understand, don't know why, I don't get it, but it belongs to." Am Ende fehlt ein "it" (würde ich meinen), aber besser kannst du das Gefühl der globalen Ungerechtigkeit nicht ausdrücken. Einfache Worte, eine getragene Melodie. Migration und Flucht, die Themen dieser Zeit. Dann brechen sie mit der musikalischen Stimmung, fangen wieder an mit ihrem unbeschwerten Sound und singen in deutsch von einer lebensbejahenden priviligierten Sehnsucht. Dann wieder der schwere Refrain. Und dann wird es schwierig, denn der nächste Part beginnt mit der Zeile "Ich bin ein Flüchtling, ein Flüchtling vom Alltag, fahr gern übers Mittelmeer (...)" Beim ersten Hören dachte ich, es gäbe hier einen Perspektivwechsel, aber dem ist nicht so. Es ist immer noch die Perspektive derjenigen, die reisen können, die priviligiert sind. Sich dann selbst als "Flüchtling des Alltags" zu bezeichnen, der "gern übers Mittelmeer" reist, finde ich gewagt...Live bin ich da gar nicht mitgekommen. Nach mehrmaligem Hören und Lesen habe ich es nun verstanden. Im Grunde genommen wird nur das eigene Privileg noch krasser und provozierender gezeichnet, aber mir gefällt die Art und Weise nicht, wie das passiert. Vielleicht ist (mir) die Realität zu nah. Zur Zeit gibt es zehntausende Geschichten von Menschen, die fliehen müssen, da komme ich nicht klar auf einen Song, der relativ lässig mit diesen "Reizworten" jongliert und Ironie zaubern möchte. Dennoch sind der Refrain und das unverkennbare Statement dahinter ein guter Wurf.

Im nächsten Song wird an diese Haltung inhaltlich und musikalisch angeknüpft. Mit einer Anleihe aus dem großartigen Chumbawamba-Klassiker "enough is enough" geht es los. Gitarre schön fett im Klang. Geige kommt melancholisch von hinten. Der Text wird gerappt ohne dass der Beat übermäßig betont wird. Der mehrstimmige Chorus-Gesang steht dem Original in nichts nach. Kompliment! Dass das "give the fascist men a gunshot" komplett weggelassen wird, ist so, und wird nicht erklärt. Das Stück ist ein wütender Antifa-Song. Ungeschminkt, eins zu eins. Das rockt in Wort und Ton.

Humor passt hier auch nicht. Fast alles gut. Nur zwei Sachen fallen auf: Warum versickert "DICKES" Blut?! Mir fällt dazu nur der

Spruch ein, dass Blut dicker sei als Wasser, was soviel bedeutet, wie, dass "Rasse und/oder Familie" über allem steht. Das ist rechte völkische Ideologie und sollte unmißverständlich kritisiert werden, aber hier versickert ja das Blut der Opfer,...und warum ist das dann "dick"? Mir erschließt sich die Begrifflichkeit des "dicken Blutes" hier nicht. Die zweite Sache ist, dass es weiter hinten dann noch heißt: "(...) auf transphobe, homophobe Mackerscheißkacke gibts nur eine Antwort: Halt die Klappe!(...)" Das ist natürlich so nicht richtig. Es gibt eine Menge andere Möglichkeiten, auf so ein Verhalten zu reagieren. Ein simpler Angriff zum Beispiel oder eben reden...um nur zwei zu nennen. Aber gut, es wäre gemein, hier nun zu spitzfindig werden zu wollen. In den Kontext des Liedes passt diese Verkürzung hervorragend und ehrlich gesagt will ich da auch gar nix anderes hören. Es widerspricht bloß auch in gewisser Weise der Ansicht aus dem PEGIDA-Song. Oder wohlwollend formuliert: Es ergänzt diese Ansicht. Schlagt zurück. Bildet Banden. Dem ist nichts hinzuzufügen. Oder eben doch einiges.

Im nächsten Song wird es volkstümlich. Das ist der Versuch einer Parodie über den Zynismus vieler Menschen gegenüber Geflüchteten. Live wird dazu eine fetzige performative Choreographie geliefert, die bitter, also in diesem Fall GUT rüberkommt. Den Song an sich auf der CD finde ich nicht sonderlich prall. Um die musikalische Dummheit zu unterstreichen, wird ein Akkordeon bemüht. Das klingt echt fies. Es gibt auch wieder schöne Wortspiele wie beispielsweise den Begriff der "geflüchteten Flut", aber mir läuft der Track nicht rein. Darüberhinaus holpert und wackelt die Geschwindigkeit.

DER TAG heißt eine melancholische Nummer, die erneut eine Vision zeichnet, wie es nach der großen Revolte aussehen könnte. Sehr originell, sehr schön erzählt und tolle Steigerungen, die zu den jeweiligen Refrains hinleiten. Der Tag, an dem die Stimmung kippte, macht Spaß, hat kleine Gimmicks drinnen, die aufhorchen lassen und lässt vermeintlich unauffällig am Ende wieder mal eine Moral einfliessen. Witzigerweise wird hier der überholte Begriff der VOKÜ (Volksküche) benutzt. Das passt zu der Sorglosigkeit, mit der auch sonst manchmal die Sprache z.B. NICHT gegendert wurde. Es ist oft so eine Entscheidung, ob du korrekt oder peppig rüberkommen willst. Ich kenne das Problem selbst und mache auch hier und da Kompromisse bei meinen Songs...aber wenige. Ey und schon wieder ein Akkordeon dabei, genau wie bei ROBODANGER. "Scheiß auf das System mit dem Futter deiner Träume!" heißt es da. Sowas nenne ich Poesie. Wunderbar arrangiert das ganze Stück, und da hat Momo stimmlich große Anteile. Sehr sehr toll. Inhaltlich geht es schon wieder um eine Zukunftsvision, wie es sein könnte,wenn...Das ist ganz drollig, zumal es mich an meine PUTZROBOTER erinnert, aber es ist anscheinend auch Masche bei Zerreißprobe. ApropoMasche , jetzt kommt der Song "Unsere neue Masche", die eigentlich eine ganz alte Masche ist. Der Song zeigt mir, dass es im (Szene-)Leben unzählige Wiederholungen gibt. Es gab in der autonomen antifaschistischen Linken wohl immer schon die Einsicht, dass es oft besser ist, mit List zu agieren als immer nur in schwarzrot. Es gab Antifas in den 90ern, die sich als komplette Hochzeitsgesellschaften getarnt hatten, um am Tag eines Naziaufmarsches, auf Raststätten dichter an die Faschos ranzukommen, um ihnen Sachen abzunehmen und/oder um sie einfach nur zu verprügeln. Sowas ist kuhl, erstrecht wenn es erfolgreich ist, neu ist es nicht. Aber passt schon, es ist nie verkehrt, für so eine Subversivität zu werben. Der Song hat fast Kabarettcharakter im Stile der guten alten 3 Tornados. Allerdings stößt mir hinten eine Zeile doof auf: "(...) schwarz gekleidet zu vernichten, wird die Zukunft auch nicht richten (...). Natürlich nicht! Was soll der Satz? Er impliziert lediglich, dass "wir", wenn wir in schwarz unterwegs sind, "versuchen zu vernichten "...Das ist ne Scheißformulierung. VERNICHTUNG ist ein extrem unpassendes Wort an dieser Stelle. Das ist Kriegsrhetorik. "Zerstörung" wäre okay. Ärgert mich richtig, weil ich merke, dass es nur dem Reim geschuldet ist. Okay, mit diesem Ärger muss ich dann in den "Ohrwurmsong" reinhören. Das geht gar nicht. Ich lass den weg! Wenn ihr das taktisch so geplant habt, zieh ich den Hut!

Dann kommt die Geschichte von Frida, der Nacktschnecke, die anarchisch unterwegs ist und auf der Suche nach einem Haus...Ganz großes Kopfkino, was da angeschaltet wird. Macht richtig Spaß. Die cleveren textlichen Anlehnungen an eine reale Hausbesetzerszene sind grandios.

Danach höre ich wieder gut gelaunt in den nächsten Track rein und stelle beim Blättern in den Texten fest, dass wir längst wieder bei Hörzu angekommen sind. DER GUTE LAUNE ERFINDER ist ein fetziges Bekenntnis zum Anarchischen. Zeilen wie "(...) ich putz mir nie die Zähne (...) weil jede Zahnpastafabrik an der Würde des Menschen frisst" sind einfach mal wirklich lustig. Und es ist klasse, dass dieses Stück live mitgeschnitten wurde. So eine Atmo kann ein Teil des gespielten Stückes sein. Die Wandlung im Stück selbst am Ende und die Passage mit der Freundin und der Markenunterwäsche finde ich persönlich schade. Hätte es nicht gebraucht. Lebendig geht es auch im Stück EY OMA zu, welches ebenfalls live mitgeschnitten wurde. Da wird dann einfach mal nur entertaint unter anderem mit nicht ganz ernstgemeinten CALL AND RESPONSE-Animationen. Auch mal okay.

DER BRAUNE TON ist eine witzige Geschichte, die sich jetzt jede/r selbst zusammenreimen kann, wenn ich dazu noch die Stichworte KAMERADEN, NPD und NATIONALER WIDERSTAND erwähne. Durchaus intelligent und gut zusammengesetzt. Stilmäßig wird hier mal gekonnt das Mittel des Spottes ausgepackt. Das finde ich sehr gelungen, machen wir viel zu selten.

Abgeschlossen wird die CD mit einem weiteren Song von Hörzu. IMMER WIEDER ist mal einer, der sich um die eigenen Befindlichkeiten dreht und erst jetzt fällt mir auf, dass es darum ansonsten eigentlich nie geht. Das gibt einen dicken Pluspunkt. Sehr angenehm, wie die eigenen Persönlichkeiten der Gruppe(n) hier nicht wirklich im Fokus stehen. Wieviele singen ständig davon, wie schlecht sie sich fühlen und warum (Betroffenheit und Identität, siehe oben). Das ist auch MAL okay, mache ich selbst hin und wieder. Aber Hörzu und Zerreißprobe fällt darüberhinaus zum Glück noch viel mehr ein. Einen großen Schwerpunkt auf dieser CD bildet dabei alles rund um das Thema FLUCHT. Stets mit dezenter Moral. Die humorvolle Art der allermeisten Songs tut gut und bereitet den atmosphärischen Teppich, auf dem wir zusammen kämpfen können. Fast nichts wirkt verkopft, fast nichts wirkt zu verträumt. Eine gute Mischung. Und dass das live immer etwas hippiesk rüberkommt, liegt daran, dass sich in dieser hochtechnisierten digitalen Welt vermutlich alle daran gewöhnt haben, dass Musik aus lauten Boxen kommen muss und die Interpret_innen auf hohen Bühnen stehen. Auch tiefgründige (lange)Texte, denen wir länger als 2 Minuten folgen sollen und die den eigenen Gedanken etwas abverlangen, sind eher selten.

Hörzu und Zerreißprobe sind gude Leude und gehören unterstützt!

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