#taxitanic
Wer TAXITANIC, mein neues Buch schon gelesen hat, kennt die Geschichte. Allen anderen viel Spaß damit.<
Oktober 2012.
An zwei Tagen hintereinander habe ich Solo-Release-Konzerte gespielt, umsonst und drinnen, um meinen neuen Tonträger zu feiern. Beide Gigs waren sehr gut besucht und haben mir viel Spaß gemacht. Nach dem zweiten, der im Syndikat stattfand, habe ich ein bisschen länger gefeiert und musste am darauffolgenden Tag trotzdem wieder zur Schicht in die Taxe springen. Ich tat das müde, aber auch mit einer gewissen Vorfreude, weil ich die 50 Tacken, die mir das Syndi überraschenderweise für den Gig gab, dem Flüchtlingscamp am Oranienplatz spenden wollte. Außerdem bekam ich einen weiteren Spendenumschlag zugesteckt mit Bargeld, um ihn dort abzugeben. Also musste ich nur noch darauf warten, bis ich dort mal in der Nähe mit der Taxe vorbeikomme, um den Knatter abzuliefern.
Die Schicht begann mit einer Bestellung zur Gitschinerstraße 22. Die Adresse entpuppte sich als Hintereingang vom Prinzenbad. Die dortigen Kioskbesitzer*innen hatten irgendwas in ihrem Laden rumgerödelt und wollten nun einige Sachen nach Reinickendorf transportieren. Nette gute Fahrt. Am Ende exakt 20 Euro auf der Uhr und die geben mir gutgelaunt 25. So kann der Tag anfangen! Kurioserweise wiederholte sich das gegen Ende der Schicht nochmal, als ich eine 46-jährige Frau (sie nannte ihr Alter im Gespräch) von Charlottenburg nach Kreuzberg fuhr. Sie erzählte mir von ihren zwei gescheiterten Ehen und ihren vier Kindern. Sie berichtete davon, dass sie sich zuletzt vor drei Jahren von dem Ehemann Nummer zwei trennte, dass das schwer gewesen sei, auch weil er vermögend und einflussreich war und dass es ihr nun aber bestens ginge. Sie würde seit drei Jahren ein „ungebundenes Gefühl der Freiheit“ spüren und genieße das sehr. Ich erzählte ihr auch ein bisschen von mir, über meine Gedanken zu Zweierbeziehungen und wir entdeckten viele Gemeinsamkeiten. Das tat vor allem ihr gut, so hatte ich den Eindruck. Am Ende dieser Fahrt wurden auch aus 19,60 dann 25 Tacken und sie stieg lächelnd, entspannt und zufrieden aus. Zwischen diesen beiden Fahrten gab ich die Spenden ab, was etwa eine Minute in Anspruch nahm. Und dann kam noch eine sehr kuriose Fahrt, die mich über eine Stunde kosten sollte und von der ich hier berichten möchte.
Ich stehe seit etwa 20 Minuten am Ostbahnhof und lese in Max Czolleks „Desintegriert euch!“. Gutes Buch! Zwei hochaufgeschossene Männer unterbrechen mich durch Klopfen an der Seitenscheibe und erklären in einem Mix aus undeutlichem Deutsch und schwerverständlichem Englisch, dass sie auf die andere Seite des Bahnhofs müssten. Sie steigen ein und ich bemerke sofort: Sie sind entweder betrunken, verwirrt oder einfach nur unfreundlich und anderweitig berauscht. Wir fahren also auf die andere Seite. Ich halte vor ein paar parkenden Autos. Sie steigen aus, entfernen sich etwa 30 Meter und öffnen dort den Kofferraum eines parkenden Pkws. Einer wuchtet eine große Reisetasche heraus und kommt schleppend auf mich zu. Sein Kumpel wankt abwesend neben ihm mit einem kleinen Handkoffer. Jetzt erst sehe ich die Auswirkungen des Rausches vor allem bei dem Wankenden. Beim Gehen macht er lustige Bögen nach links und rechts. Und aufgrund des Gepäcks in der rechten Hand, bekommt er auf dieser Seite etwas Schlagseite, gibt aber nicht um. Er rettet sich wie ein Hochseilartist immer wieder ins Gleichgewicht. Als sie bei mir ankommen, nehme ich die Gepäckstücke an mich und verfrachte sie ins Taxi. Die beiden fangen an, sich fröhlich voneinander zu verabschieden. Der Ich-kann-nicht-mehr-geradeaus-gehen-Mann will mit mir fahren, der andere offenbar nicht. Ich frage schon mal außerhalb des Taxis präventiv nach dem Fahrziel und der Torkel-Mann lallt mir „Wedding“ entgegen. Ich frage nach der Straße und blicke in ein fragendes Gesicht mit glasigen Augen. „Wedding“ wiederholt mein Patient. Als ich seinen Kumpel frage, bestätigt er „Wedding“. Menno! Aus Erfahrung will ich vorher immer möglichst genau wissen, wohin die Leute wollen. Sonst passieren Sachen, die du später nicht mehr händeln kannst. Sie pennen ein, wissen tatsächlich nicht, auf welchem Planeten sie sich gerade befinden oder behaupten, du hättest sie entführt und natürlich wird dafür dann nicht auch noch bezahlt, sondern die Polizei gerufen. Als ich (ausnahmsweise) auch noch vorsichtig frage, ob genügend Fahrtgeld vorhanden sei, kippt die Stimmung fast. Ich bin aber entspannt und immer noch sehr entgegenkommend, was dazu führt, dass der Rauschmann auf seinem Handy eine Nummer wählt, um die Adresse zu erfragen. Er spricht viel zu laut in das Telefon und gibt es mir dann. Am anderen Ende eine von mir weiblich gelesene Stimme, schlechte Verbindung. Nach dem vierten Mal Nachfragen, verstehe ich, dass es in die Brüsseler Straße gehen soll. Eine Hausnummer bekomme ich auch. Trotz der Befürchtung von Stress und Problemen fahren wir los.
Der Rauschmann, der sich alsbald als „Wilson“ vorstellt, sitzt wie ein zerknautschtes Kissen auf dem Beifahrersitz. Da ich ihm ein Gefühl geben will, dass er bei mir gut aufgehoben ist und weil es in der Regel stressfreier ist, wenn du mit den Leuten redest, frage ich ihn, was es denn wohl zu feiern gab und wo er gerade herkäme. Zu meiner Verwunderung fängt er an, wie ein Wasserfall zu plappern. Ich kann artikulationsmäßig weniger als die Hälfte verstehen, aber egal, wer redet, schläft nicht ein, und wer erzählt, macht auch seltener Ärger. Er erzählt, dass er seit sieben Jahren auf einem Schiff in Holland arbeite und nun hier in Berlin seine Freundin besuche. Berlin sei eine tolle Stadt, weil es hier so viele verschiedene Kulturen gäbe. Ich erfahre auch, dass er mindestens noch 50 Euro bei sich hat und fühle mich finanziell schon mal auf der sicheren Seite. Der Typ wird mir sympathischer. In der Brüsselerstraße angekommen, will er aber nicht so recht aussteigen, sondern guckt sich misstrauisch um. Ich erkläre ihm, dass hier die richtige Hausnummer sei. Er gibt mir 25 Euro für die Fahrt (22,30) und will aber, dass ich noch warte. Er telefoniert, bis von der gegenüberliegenden Seite plötzlich eine Lady auf uns zukommt. Offenbar seine Freundin. Sie steigt ein und gibt ihm einen flüchtigen Kuss. Ich frage, ob die Fahrt nun doch noch weitergehe und sie sagt knapp „Besser ist das!“. Dann unterhalten sich die beiden offenbar darüber, was sie nun planen. Ich verstehe kein Wort, aber es ist hörbar ein anstrengendes emotionales Gespräch in einer anderen Sprache. Wilson wirkt in seinem Rausch einigermaßen überfordert, die Frau hingegen relativ taff. Gefühlte fünf Minuten später sagt sie zu mir, dass ich in die Burgsdorfstraße fahren soll. Okay, kein Problem, ist ja gleich um die Ecke. Innerlich bin ich froh, dass es nicht mehr so weit geht, denn es liegt irgendwie Disharmonie in der Luft. Dort an einem Imbiss angekommen erklärt sie, dass sie reingeht, um etwas zum Essen zu bestellen und fragt, ob ich ein Hotel in der Nähe wisse. Ich sage den beiden, dass es auf der Chausseestraße ein paar Hotels gäbe, die wir anfahren können, und dass das nicht weit sei von hier. Sie findet das okay, steigt aus und verschwindet in dem Laden. Wilson will eine rauchen und erklärt mir umständlich, dass er nicht abhauen würde. Ich muss schmunzeln. Davor habe ich bei ihm definitiv keine Angst, denn erstens habe ich ja sein Gepäck noch und zweitens würde ich ihn aufgrund seiner körperlichen Verfassung sogar wiederfinden, wenn ich ihm jetzt eine Stunde Vorsprung gäbe. Er raucht also draußen und berichtet mir kleinlaut, dass es mit der Frau alles gar nicht so gut laufe, aber sie dummerweise seine einzige Anlaufstelle hier in Berlin sei. Er wirkt jetzt deutlich nüchterner als noch vor einer halben Stunde und so gar nicht mehr selbstbewusst.
Dann kommt sie ohne Essen, aber gut gelaunt zurück („nur Bestellung, nachher abholen!“) und ich steuere das erste Hotel an. Er bleibt sitzen, sie geht rein. Fünf Minuten warten. Sie kommt raus. Ausgebucht! Weiter zum nächsten Hotel. Ich halte direkt davor. Beide bleiben sitzen, schauen in die „Lounge“ wie Zoobesucher*innen in ein Gehege und kommen zu dem Ergebnis, dass das nix für sie sei. Ob es hier ein Motel One gäbe. „Jau! Am Hauptbahnhof zum Beispiel.“ Also ab zum Hauptbahnhof. Ich halte vor dem Motel One und sie steigt wieder aus, um die Dinge zu regeln. Schnell und forschen Schrittes zurückgekehrt, fordert sie Geld von ihm. Zimmer gegen Vorkasse. Wilson hat aber nicht viel Geld zu bieten. Nur ein paar Scheine, mit denen sie wieder hineingeht und nach zwei Minuten wieder rauskommt mit der Ansage, dass das nicht reiche für eine Buchung. „Dann Sparkasse“, meint Wilson. Ich muss mich sortieren. Suchen wir nun eine Sparkasse hier in der Nähe oder eine, in der Nähe von dem bestellten Essen? Oder wie oder was? „Wedding“ gibt Wilson zum Besten. Kommt mir bekannt vor. Sie kann es besser und fügt „Reinickendorfer Straße“ hinzu. Also wieder zurück Richtung Norden. Wedding halt. An der besagten Sparkasse angekommen, steigt Wilson nun aus, um Geld abzuheben. Ich bin sehr skeptisch, ob das klappen wird. Der etwa 15 Meter lange Weg vom Taxi zur Eingangstür der Bank wird von Wilson in Schlangenlinie zu einem 30 Meter-Parcours ausgeformt, aber er erreicht schließlich unverletzt einen der Automaten. Und dann dauert es locker zehn Minuten, doch er kommt tatsächlich wieder. Nach einem kurzen verwirrten Blick vor der Bank, als müsse er sich kurz neu orientieren, entdeckt er auch uns wieder und kommt fröhlich torkelnd zurück.
„Gut, nun Burgsdorfstraße“, befiehlt die Frau und lacht dreckig.
„Ah, na klar, das Essen“, antwortete ich und fahre los in der Annahme, dass dort die Fahrt endet.
Ist aber nicht so. Mit dem abgeholten und eingepackten Essen geht es nun in die Ütrechterstraße zu einer Freundin von ihr. Ah ja. Ich folge den Anweisungen lethargisch. Dort angekommen, erscheint plötzlich eine sehr freundliche und sympathische Frau, begrüßt umarmend und lachend den trunkenboldigen Wilson und nimmt gleichzeitig einen Teil des Essens entgegen. Sie wechseln ein paar knappe Worte, dann verschwindet sie wieder im Haus. Die Fahrt mit meinen beiden Leuchtbojen geht also offenbar weiter, aber langsam wird mir das Ganze auch sympathischer, weil es so verrückt ist, was hier passiert und weil ich es kaum nachvollziehen kann, wer da jetzt mit wem und so weiter. Wilsons Freundin scheint jetzt plötzlich auch irgendwie entspannter und gar nicht sonderlich genervt zu sein von der ganzen Aktion. Beide kichern ständig und amüsieren sich augenscheinlich köstlich. Ich fange an, das zu mögen. Von der Ütrechterstraße geht es dann noch ein weiteres Mal zum Motel One am Hauptbahnhof, wo sie tatsächlich aussteigen und bleiben wollen. Der Taxameter zeigt stolze 49,10 Euro an. Wilson bezahlt, lächelt mich an und sagt, dass ich ein guter Mensch sei. Dann verschwinden beide mit Essen und Gepäck im Eingangsbereich dieses Neubauklotzes an der Invalidenstraße.