POCKETPUNK
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Geigerzähler

DEUTSCHER WALD FÜR DEUTSCHE REHE – CD

Artwork und Verpackung kommen extrem unaufwendig daher. Einfacher Pappschober, CD innliegend, fertig. Auf dem Cover das finstere Foto eines kaputten Waldes, ein Warnschild mit einer Symbolflamme, fiese „altdeutsche“ Schrift und kein Textblatt. Auf der Rückseite ein Bild vom rauchenden Paul, ein paar Erklärungen zu den Songs, das ab-dafuer-Logo und das eindeutige FCKAFD als ein erstes politisches Statement. Dann mal die CD rausgeholt und in den ollen Player geworfen.

Zuerst hören wir einen Song über die Wut. Da haben schon viele Bands drüber philosophiert. Mir fallen sofort „DIE VERSAUTEN STIEFKINDER“ mit WUT IM WANST ein. Und mit OPTION WEG singen wir „…deine Wut is’n Hund…“. Paul macht sich die Mühe und schaut mal hin, was passiert, wenn die Wut „die Seite wechselt“, also sich den Rechten oder dem Kapital an die Seite stellt. Ein etwas skurriler Gedankengang, weil er suggeriert, dass die Wut im Ursprung den Linken gehört. Aber gut, die Aussage ist letztlich, dass Paul die Wut in der eigenen Community vermisst. Kleiner lustiger Nebeneffekt beim Hören: Wenn der Chor „Hey Wut!“ brüllt, habe ich beim ersten Lauschen immer „Helmut!“ verstanden und mir erschloss sich so gar nicht, wer gemeint sein könnte.

Weiter geht’s mit „Ach moja hola“, offenbar ein Coversong. Sehr schön interpretiert und begeigt, auch wenn ich die Sprache nicht kann und somit kein Wort verstehe.

„Kopfstand“ ist dann der Soundtrack zu den regelmäßigen Abenden, die im Supamolly stattfinden. Musikalische Lesungen mit verschiedenen Künstler*innen. Habe noch keine live miterlebt. Hier auf der CD wirkt der Track wie ein eigenständiger Song.

„Grunewald“ ist die erzählte Geschichte von Widerstand, vergangenen Zeiten und Berlin-Historie. Freude macht die Zeile „Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg!“. Das war schon das Motto einer von uns organisierten Demo im Grunewald, Anfang der 1990er. Vor ein paar Jahren wurde es wieder aufgegriffen und dann am 1.Mai in das gleiche feine Viertel mobilisiert. Eine Aktionsform, die primär Spaß und Satire in ihren Fokus zieht. Die reichen Anwohner*innen fühlten sich dementsprechend eher weniger bedroht. Sie waren eher genervt, teilweise aber auch belustigt über die linken Fantasiechaot*innen aus den ärmeren Bezirken. Schön, dass Paul auch solche Events immer mal wieder musikalisch dokumentiert.

Mit „Sein wie sie“ beginnt Paul mit einer Art Story telling. Musikalisch fiedelt sich die Geige fast wie bei „Herzmuskel“ (FRÜCHTE DES ZORNS) in den Song hinein. Dann erfahren wir von ein paar Menschen beispiel- und schemenhaft, wie sie ihre Grenzen scharf ziehen oder gezogen haben. Pauls Stimme ist ausdrucksstark im Erzählen und wütend im Refrain. Sehr schöne Kombi. Eigentlich ein perfekter Punksong, aber Paul schafft es auch ohne Schlagzeug, Bass und Gitarre, alles auf den Punkt zu performen. Wenn er in der zweiten Strophe von so Hippies erzählt, fühle ich mich erinnert an eine Passage aus meiner Soloversion von SCHADE DASS BETON NICHT BRENNT…Sehr amüsant, wie Paul hier auch immer wieder Humor einfließen lässt.

Beim Titelsong (Deutscher Wald für deutsche Rehe) klingt es fast ein bisschen nach Brecht und Eisler. Monumental wird es durch eine Pauke, die auf jede vierte Eins donnert. Anklagender zynischer Gesang. Begriffe wie „die deutsche Maus“ übersteigern die Satire aufs Lustigste. Im Kontrast dazu immer wieder das sehr ernstgemeinte „…und mir ist kalt“…Eine interessante Mischung zweier Vortragsgenres, die sich hier aber gut ineinanderfügen. Hinten raus noch eine etwas verzwirbelte klassische Volksmusikgeige und der Track ist rund.

„Ticket to lose“ ist voll mit rythmischen Brüchen. Das ist ohnehin ein Stilmittel, das sich durch das ganze Album zieht. Das ist einfach „Geigerzähler-Stil“. Hier und da klingt es nach Kabarett, dann kommt wieder ein Punk-Refrain. Die Rythmuswechsel gefallen mir nicht immer, denn kaum bewege ich mich zur Musik, bricht der Groove auch schon wieder ab. Deshalb kommt auch so manche Zeile etwas oberlehrerhaft rüber, einfach nur deshalb, weil sie in eine „dramatische“ Pause platziert worden ist. Ist für meinen Geschmack aber immer im Rahmen und geht im Gesamtkontext in Ordnung.

Sehr sehr toll ist das gezupfte „Mej ty dobru noc“. Immer wenn Paul nicht deutsch singt, wird es irgendwie sanft und rührig. Okay, in diesem Fall scheint es auch eine Art Schlaflied zu sein. Jedenfalls könntest du den Titel übersetzen mit „Hab eine gute Nacht…!“ Das ist so ein Stück, wo du als Zuhörer*in runterkommen, die Ohren ausruhen und die Gehirnakrobatik auf Sparflamme fahren kannst. Überhaupt sind auch sonst immer wieder kleine musikalische Gimmiks eingestreut, die Luft zum Atmen lassen. Das tut der Platte gut.

Die letzten beiden Songs gehen dann nochmal richtig ab. Musik wie ein Schnellzug, der aber immer wieder an den kleinen Bahnhöfen hält (Leben im Spätkapitalismus). Straßengeräusche und eine Geige in den höchsten Tönen (Höhen unf Tiefen).

Geigerzähler hat ein großartiges Album aufgenommen. Er liefert stilistisch das Gegenteil von populärer Musik. Sein Werk wird (wie sich das für Subkultur gehört ;)) im Mikrokosmos hängenbleiben und sich hier ein bisschen verbreiten. Es wird live seine Begeisterung und politische Wut entfalten. Geigerzähler hat sein Standing untermauert, dass auf ihn, sowohl als Künstler, als auch als anarchisch denkender Mensch, auf eine gewisse Art Verlass ist. Hört hört! Und verbreitet die frohe Kunde!

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