Transparentes Vinyl! Wow. Sieht aus, wie ne plattgepresste Tupperdose diese neue Scheibe von 100 Kilo Herz. Leider außen cellophaniert...das' nich' gut für die Umwelt! Stadt Land Flucht is'n Hammer-Album-Titel, zumal das auch inhaltlich ein paar Mal auftaucht. Fettes Klappcover, da siehste dann erstmal ein riesen Bild von der Band, die im Staub steht. Soll'n se wenn se dat woll'n. Früher mochte ich das immer voll, wenn die Bands auf den Alben in allen möglichen Posen zu sehen war, heute finde ich das eher so...naja...Aber definitiv ist das Layout schon mal sehr ansprechend. Alle Texte dabei. Knorke! Ruff uff'n Plattenteller damit und die Ohren gespitzt!
Da denkste fast, du hast die erste Platte von Rantanplan aufgelegt, wenn du so'n älterer Herr wie icke bist. Für mich sind das freudige Erinnerungen an die 1990er-Jahre. "Kein Schulterklopfen" war damals Bombe und lief bei uns in Dauerschleife. Außerdem war Marcus Wiebusch bei den ersten beiden Alben noch einer der beiden Sänger und von dem ist bei 100 Kilo Herz dann auch öfter mal die Rede.
-Drei Jahre ausgebrannt-
Gleich mit dem ersten Song wird klar, dass hier einer singt, der was erlebt hat. Das Kunststück, das Rodi gelingt, ist, dass dieser Song zwar zutiefst persönlich wirkt, er und die Band ihn aber so gut verarbeitet haben, dass der Track diese fröhlich-bittere Tanzbarkeit ausstrahlt. Und das berührt, weil da einer nicht nur von sich singt, sondern auch von dir. Und genau diese Brücke muss ein guter Song schlagen, sonst ist das nur Jammern mit Musik. Der Text ist düster, kotzt sich aber direkt hübsch aus.
"Eure ironischen Witze sind gerade voll im Trend und der Griff an die Hüfte war doch nur ein Kompliment. Dumme Sprüche über Frauen und die Flüchtlingspolitik, ich finde euch noch ekliger als eure Scheiß-Musik!" Das ist direkt ein punkiges Oldstyle-Statement gegen den bürgerlichen Mainstream. Gut gesetzt und dreckig rausgekloppt. Ich sing mit!
-Tresenfrist-
Ein bisschen Heinz Erhard in den Text geschummelt und dann geht es los mit einem fast klassischen Trinklied. Schöne Breaks von schnell auf Slow-Ska bietet der Song. Passt textmäßig ganz gut ran an "Drei Jahre ausgebrannt". War die Sauferei davor, währenddessen oder danach? Oder war und ist sie immer?! Ist die Sauferei eventuell das Problem? Die Frage steht ein bisschen im Raum und das gefällt mir. "Alles war gut als wir tanzten und wurde dann schräg als wir tranken!" singen wir mit Option weg und ich habe das Gefühl, dass wir da ähnliches verhandeln.
-Drei vor fünf vor zwölf-
Sehr schöner Titel. Mit Option weg (sorry für die erneute Eigenwerbung...hihi) haben wir einen auf der neuen Platte der "16 vor 7" heißt. 100KH wagt eine positive Zustandsbeschreibung, die keine ist. Guter Move. Anstatt die Scheiße zu beschreiben, stellen sie zynisch fest, dass Nazis abgeschafft und Fremdenhass besiegt worden sei. Auch Antisemitismus wird kurz thematisiert. Sehr gut. Bei genauerem Betrachtung merke ich allerdings, dass die "linken Viertel, die zu Gefahrengebieten erklärt wurden" nicht ganz sauber in die Reihe dieser Aufzählung gehören. Da es sich hier aber um ein Lied handelt und nicht um ein politisch intellektuelles Pamphlet, und da vermutlich auch alle wissen, wie es gemeint ist, will ich hier keine Erbsen zählen.
-Träume-
Schöner melancholischer Song. Schätze mal, das ist nochmal der genauere Einblick in die drei ausgebrannten Jahre, der es aber schafft, ein Leiden in einen Sound zu packen, der den Alltag von vielen Menschen spiegelt. Abermals also kein ICH-Song, wieder wird das DU benutzt. Da werden viele was mit anfangen können, die schwere Zeiten hatten oder haben, die diese Dunkelheit tief in sich drinnen schon mal gesehen haben. Sehr empathische Musik dahinter. Flecki und Claas ziehen mit ihren Tröten die Töne lang hinter den Gesang. Das unterstützt die Stimmung super. Und auch das Bläsersolo (sollte das Sax sein, oder?!) passt da perfekt rein. Ein Sound wie ein Bett. Leg dich rein, brüll mit und heul dich aus. Hinterher is' besser...
-An Ampeln-
Was ist das? Ein Liebeslied? Die Beschreibung einer verkackten Beziehung? Auf jeden Fall ein kleines bisschen lustig, sich vorzustellen, dass 2 Kilometer zu Fuß 2 Stunden dauern, weil sich da welche an jeder Ampel küssen müssen...Und auch dieser Song kommt nicht ohne eine gewisse Dramatik aus.
-Das ist ein Ende-
Wieder diese schöne präzise Ska-Gitarre, die in den Strophen unverzerrt daherkommt und die im Refrain durch die brachiale Verzerrung (der vermutlich zweiten Gitarre) abgelöst wird. Steh ich voll drauf. Genau das hat damals bei Rantanplan musikalisch die Dynamiken reingebracht und wir haben uns mit unserer Band Tod und Mordschlag immer gefragt, wie die das so geil hinkriegen. Haben dann im Studio selbst 10 verzerrte Gitarren übereinander gelegt, um später zu erfahren, dass Rantanplan einfach nur das richtige Effektgerät hatte...eins, was einfach mal so klingt wie das, was auch hier bei 100KH so pustet. Wie genau Clemens und Marco und/oder der/die zuständige Tonmaschinist/in das so hinkriegen, weiß ich nicht, es ist aber beeindruckend und bringt den Körper zum Zappeln. Den Text des Songs kannste auf'n Bierdeckel schreiben, so kurz is' der. Optimaler Track für Konzerte, schätze ich. Immer und immer wieder "das ist das Ende" mitzusingen, macht mit Sicherheit Laune und passt zu jedem Anlass. Hitverdächtig! Auch hier wieder diese geilen Slow-Ska-Parts. Und ein überraschender Schluss...da klingt nix aus...wie hieß das Lied nochmal? Aaaahhh!!
Auf der zweiten Seite der Platte höre ich plötzlich bei den ersten beiden und beim letzten Stück ein bisschen Feine-Sahne-Stil heraus. Also mehr Midtempo und etwas rockiger. Entsprechend wirken die Blasinstrumente auch gefälliger. Und oh siehe da, der erste und der letzte Titel sind ja auch sogar Feine-Sahne-Tracks...nee, doch nicht, nur die Titel "Nur für eine Nacht" und "Wenn es brennt". Es sind aber komplett andere Songs.
-Nur für eine Nacht-
Klassischer Nulltext für mich. So einer, wo auf dem Album noch was fehlt und dann geht einer aus'm Studio und schreibt genau diesen Song in 10 Minuten runter. Schnell paar gängige Akkorde dazu, fertig. Auf Tour sein, verschiedene Städte, einmal schlafen und weiter. Naja, trotzdem halbwegs kraftvoll das Ganze. Aber...geht so.
-Der Späti an der Klinik-
Auch hier können mich die Lyrics nicht wirklich mitreißen. Holpriger uneingängiger Refrain. Kein Flow in den Worten. Zu einfach. Aber genau hingeschaut und hingehört bin ich inhaltlich wieder bei einer Sidearm-Story zu "drei Jahre ausgebrannt". Roter Faden?! Zum Glück tauchen die "ohohohoooo-Chöre" am Ende dieses Liedes auf der ganzen Platte nicht nochmal auf. Das überlasst ma' bitte auch den Hosen, Feine Sahne und ZSK. Mal ist das ja ganz schön, aber bloß nicht als Konzept für Rock am Ring oder so...bäh!
-Und aus den Boxen but alive-
Jau, Rantanplansound mit but-alive-Lyrics. Worum geht's? Um's Saufen. Um Lebensgefühl. But alive mochte ich mal sehr, aber ich staune, dass sich but alive hier rund um Leipzig so ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt hat, denn die Band (damals auch gerne Schlaumeierpunk genannt) war so gut wie gar nicht "im Osten" auf Tour. Das war eigentlich ne klassische westdeutsche Band, auch wenn's schon die Neunziger waren. Aber genauso verwunderlich ist ja, dass der frühe Rantanplansound hier offenbar ebenso überlebt hat. Vielleicht ja auch nur Verdienst von ein oder zwei Leuten bei 100KH. Werde es noch herausbekommen. Zu dem Song gibt es übrigens auch ein Video, bei dem ein Typ rumtanzt, der ein Shirt von einer Band anhat, die ich doof finde. Kleines Rätsel, wie ihr merkt. Will hier ja nicht dissen. Ist aber auch sehr schwer rauszukriegen, selbst wenn ihr das Video aufmerksam schauen solltet.
-Sowas wie ein Testament-
Sehr schöner Song. Dummerweise sehe ich Rodi beim Hören immer im offenen Sarg mit Blumen im Haar. Kein gutes Bild, aber genau das singt er. Theatrale Bläser sorgen für Atmosphäre und endlich ist auch mal etwas mehr Platz für den Bass da, den Rodi selbst spielt. Der Song ist ein schöner Bruch mit den Konventionen des Todes. Warum allerdings Marcus Wiebusch schon alles zu "Begräbnissen" gesagt haben soll, erschließt sich mir nicht. Muss'n Kettcar-Song sein, auf den sich das bezieht, da kenn ich mich kaum aus, weil ich Kettcar blöd finde. Bei But Alive kann ich mich nicht erinnern, dass da was mit Tod, Beerdigung oder so war!? However, Scott McKenzie wird auch noch kurz erwähnt und gewürdigt, der ist schon lange was tot. Hatte mit "San Franzisco" einen Welthit, wurde aber dann in Los Angeles begraben. Aus dem Lied kommen auch die "Flowers in your hair", die Rodi geflochten haben möchte, wenn er tot is'. Alter Hippie! Nee, im Ernst, toller Song!
-Scheren fressen-
Explizit politischer Track. Tut auch mal gut, konkret zu werden und z.B. den NSU zu benennen und den Zusammenhang zu "jedem Montag" herzustellen, wo unter anderem die Pegida-Blitzbirnen immer in Massen demonstriert haben. Und das sehr böse und harte Bild von "Scheren fressen" passt zur Wut, die sich hier artikuliert. Bin dabei! Die Kontexte herstellen von NSU zur AFD, von Straßenfaschos zu Identitären, von autonomen Nationalist*innen zu Social-Media-Plattformen etc., das ist auch die Aufgabe von linken Bands. Dicker Bonuspunkt an dieser Stelle für 100KH.
-Wenn es brennt-
Für mich der beste Song auf dem Album. Hier wird ein Szenario entworfen, dass eine Flucht im Jetzt zeichnet. Es wird so getan, als träfe es nicht "die anderen" sondern dich/uns...Menschen, denen wir im Alltag begegnen, verschwinden, wir machen uns Sorgen, machen uns Gedanken darum, ob diese wohl noch rechtzeitig weggkommen sind. Der Sänger plant die Flucht. Es könnte auch die Geschichte aus einem anderen Land sein, wo Leute Hals über Kopf fliehen mussten. Aber es ist dann doch Deutschland, Halle, Saalfeld, Gütersloh. Die ICH-Perspektive, die im Text benutzt wird, ist großartig und mitreißend. Ein Track, durch den ich ohne Tränen kaum durchkomme, auch nach'm fünften Mal Hören noch nicht. Musikalisch perfekt inszeniert, der Akkordwechsel am Ende auf "frei", der alles nochmal öffnet, obwohl die Lage miserabel ist. Die Drums von Falk, wie auf dem kompletten Album immer wuchtig, sauber und tight dabei. Sehr nah das alles. Mit Bedacht wurde es an das Ende des Albums gesetzt. Es gibt einen Song von Hermann van Veen, an den ich dabei denken musste. Er heißt "Paul". Leider ist das Video auf Youtube verschwunden, wo er es live performt hat. Es beschreibt jedenfalls auch Szenarien, aus denen er fliehen muss und fragt seinen Freund Paul, ob er bereit wäre, ihn zu verstecken. Aus seiner holländischen Perspektive fragt er, ob er mit nach Berlin kommen könne. In "Wenn es brennt" ist das Ziel Den Haag.
Und das war es auch schon mit Stadt Land Flucht. Kurzweilig. Ich wundere mich nicht, dass die Band in so kurzer Zeit soviel Zuspruch und Anerkennung bekommen hat und bekommt. Es ist soundmäßig und stimmungsmäßig am Zahn der Zeit. Und ich hoffe, es hat nicht genervt, dass ich den Sound und auch die Attitüde hier und da verglichen habe. Niemand erfindet das Rad neu. Höchstens die Speichen! Es ist gut produziert und kommt vom Herzen, weil 100 Kilo Herz sind noch "frisch" sind! Es freut mich um so mehr, weil ich Rodi schon vor längerer Zeit kennenlernte. Da sang er sich seine Songs noch akustisch aus'm Hals (im Wortsinn), meistens mindestens einen Ton zu hoch, aber immer mit Leidenschaft. Rodi und ich begegneten uns in der RAK, der rotzfrechen Asphaltkultur. Auch er war es immer gewohnt, vor wenig Publikum zu spielen. Das wird in den nächsten Jahren anders werden und ich hoffe, dass es nicht abtörnend wird. Wenn du erstmal gefeiert wirst, bekannter wirst etc., dann kommen ganz andere Probleme. Stichwort Kommerz, Stichwort Antifa-Disneyland-Vermarktung, Stichwort Held sein, überhöht werden, Stichwort jede Menge Idioten auf großen Festivals und und und...Mich interessieren die meisten Bands nicht mehr, die diesen Weg gehen oder gegangen sind. Weil es dann Karriere wird. In der GEMA ist auch 100 Kilo Herz offenbar schon. Und unter welche Fittiche sie genommen werden, mit wem sie sich einlassen, featuren lassen etc., das wird ausschlaggebend sein für den weiteren Verlauf. Schön auf'm Teppich bleiben, auch wenn der Teppich brennt! Und zum Schluss noch ne Kritik, für die es schon deutlich zu spät ist: Warum schon wieder nur weiße Kerle in einer guten Band??? Schade, ey!
Dieses Review schrieb Yok am 1.2.2021
https://pocketpunk.so36.net/
https://yok-pocketpunk.bandcamp.com/