POCKETPUNK

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April 2024

DIRTY OLD TOWN

„Machen sie bitte das Fenster zu, sonst fliegt der Oma die Perücke weg!“ sagt die fröhliche alte Dame, als wir losfahren. Ich muss laut lachen und komme ihrer freundlichen Bitte nach. Sie lacht spontan laut mit. Es passiert nicht oft, dass ich so impulsiv und offen reagiere, fällt mir dabei im nächsten Moment auf. Schade eigentlich. Vieles gibt auch nicht den Anlass dazu, sich unbefangen zu amüsieren. Die Stadt ist randvoll mit Problemen und Probleme sind eigentlich nie witzig. Eines dieser Probleme nähert sich dann einige Stunden nach der drolligen Perückenfrau zügig meiner Taxe. Ich stehe an der Halte Wald/Turm (Waldstraße Ecke Turmstraße in Moabit) und der Typ geht diagonal über die 4-spurige Kreuzung ohne zu gucken. Äußeres Erscheinungsbild: Sehr ungepflegt, einen schmutzigen Verband um den einen Arm gebunden, der andere Arm hat Wunden und Ausschlag. Er trägt eine Plastiktüte mit sich, seine Schuhe sind dreckig und kaputt, die Hose abgerissen und auf seinem Gesicht geben sich Stress und kalter Schweiß die Hand. Sein Gang ist forsch aber wackelig. Zuerst bin ich mir sicher, dass er nicht Taxi fahren will, aber dann sitzt er plötzlich diagonal hinter mir. Er atmet schwer:

„Hallo, einmal zum Paul-Lincke-Ufer bitte!“

„Nach Kreuzberg, alles klar!“ ist meine Antwort und ich fahre los.

Ich habe ein Prinzip. Ich frage Kunden nicht danach, ob sie Geld haben, auch wenn sie „arm“ aussehen und ich verlange entsprechend auch keine Vorkasse oder ähnliches. Ich behandle jede*n erstmal gleich, auch wenn ich skeptisch bin, ob ich dabei gut abschneide. Das ist eine Frage des würdigen Umgangs mit Menschen. Also das betrifft natürlich nicht meine Würde, sondern die Würde des Fahrgastes. Dieser hier hat garantiert schon 1000x die Erfahrung von Scheißblicken und Abweisungen gemacht. Bei mir jetzt nicht. Ich fahre los und wir plaudern. Er hat Probleme mit dem Sprechen, er erzählt mir was von einem Schicksalsschlag, der ihn vor Jahren aus der Bahn geworfen hat. Er sieht blass und ungesund aus. Es geht ihm nicht gut. Er will zum Arzt am Paul-Lincke-Ufer. Er bräuchte dringend ein Medikament. Es ist Freitag 17 Uhr und er erzählt ganz nebenbei, dass der Arzt immer um 13 Uhr dicht macht, aber er hoffe, dass noch jemand dort ist. Er habe leider kein Telefon mehr, sonst hätte er ja auch mal dort angerufen. Ich ahne Schwierigkeiten, was die Bezahlung der Fahrt angeht, bleibe aber kuul und höre mir seine Geschichten an. Er erzählt mir auch, dass diese Taxifahrt dann über die Krankenkasse abgerechnet werden könne und ich stelle mich darauf ein, dass ich am Ende der Fahrt kein Geld sehen werde und er keinen Arzt. Dass er dann gleich wieder mit mir zurückfahren will, lässt jedoch doch noch ein kleines bisschen Hoffnung aufkeimen. Wir kommen bei besagter Hausnummer an und der Taxameter zeigt 19 Euro. Er will aussteigen. Ich bitte ihn darum, mir 20 Euro zu geben und schlage vor, dann auf ihn zu warten. Nun kommt er damit raus, dass er keine Kohle dabei hat. Er bekäme aber bestimmt ein Abrechnungsformular vom Arzt für die Fahrt. Ich weiß, dass es keine "spontanen" Arzt-Coupons oder ähnliches gibt. Wir steigen zusammen aus und gehen zur Haustür. Er klingelt bei der Praxis. Natürlich öffnet niemand. Wir stehen da und gucken uns blöd an. Nun ist klar, was das ist. Für mich ein Griff ins Klo. Eine dreiviertel Stunde Wartezeit an der Taxihalte plus eine halbstündige Fahrt ohne Geld. Für ihn auch Scheiße, weil die Praxis geschlossen hat. Ich spüre zu gleichen Anteilen Ärger und Mitgefühl. Den Ärger behalte ich für mich. Das Mitgefühl aber auch. Die Bullen werde ich jetzt natürlich nicht rufen, das ist klar. Irgendwas mit ihm ausdealen, dass er mir die Kohle später gibt, erscheint mir völlig aussichtslos.

Ich sage noch kurz: „Okay Alter, haste mich bisschen verarscht, wa?! Klasse Nummer, vielen Dank!“ und steige wieder zu meiner Bad-Mobil.

Er ruft noch hinterher, dass es ihm leid täte und er mich doch anrufen könne und so. Jaja. Ich fahre weg. Einige Wochen später sehe ich ihn wieder schnorrend am Kotti und überlege, ob ich ihn anspreche, aber die Geschichte ist abgehakt und ich schätze mal, er hat es schwer genug und kommt eh nicht klar. Der arme Mann braucht nicht noch jemanden, der ihn blöd anmacht, nur weil er mal was nicht bezahlt hat. Hab ich halt Pech gehabt, fertig.

Wenig später stehe ich als erster an der Halte Yorck/Mehring (Yorckstraße Ecke Mehringdamm). Eine ordentlich angezogene Frau mit weißem Kragenshirt und bescher Hose im Alter von 45 – 50 Jahren bleibt an meinem offenen Fenster kurz stehen, schaut mich an und fragt, ob ich sie mitnehmen kann.

„Aber natürlich!“ sage ich und sie steigt hinten ein.

Dann fragt sie „Haben sie Zeit? Ich werde nämlich gestalkt und muss hier so schnell wie möglich weg. Ich gebe ihnen alles, was ich habe, ich muss nach Hamburg!“

Sie legt ein rotes handflächengroßes 10 cm hohes Etui mit Reisverschluß auf die Mittelkonsole und sagt: „Für die Fahrt kriegen sie alles, was da drin ist!“

Ich schaue erstmal nach draußen, ob da irgendwer rumlungert, der diese Frau möglicherweise verfolgt, sehe aber niemanden, der/die in Frage kommen würde.

Ich frage: „Was ist denn da drin?!“

Sie nimmt das Etui und öffnet den Reißverschluß. Es kommt leider kein Bündel mit Geld zum Vorschein, sondern eine ganz normale Kleinbildkamera im Wert von vielleicht 100 Euro.

„Die hat mal 300 Euro gekostet, die Polizei hilft mir ja nicht!“ sagt sie. Dann öffnet sie das Akku/SD-Card-Fach und meint:

“Hier, das haben die mir auch weggenommen. Ich komme gerade aus der Psychatrie!“ Ich will gerade nachfragen und denke noch über den Preis für eine Fahrt nach Hamburg nach, da fährt sie schon ungeduldig fort:

„Fahren sie mich jetzt oder nicht, ich habe auch noch einen PC, den sie haben können!“

Sie kramt in ihrer Umhängetasche. Ich schätze ein, dass das keine gute Idee wäre, mich näher auf sie einzulassen, ärgere mich aber gleichzeitig, weil ich für diese lukrative Fahrt tatsächlich auch die Zeit gehabt hätte.

Ich sage: „Nein, mach‘ ich nicht!“

Dann nimmt sie ihre Sachen und sagt beleidigt: „Dann nehme ich mir eben einen Türken, der macht das sofort, werden sie sehen, dann nehme ich mir einen Türken!“

Sie steigt aus. Bevor sie die Tür schließt, fügt sie noch hinzu: „Da haben sie aber großes Pech gehabt, denn ich bin eine sehr reiche Frau!“

„Soso“ denke ich, Geld hätte ich auch genommen. Hinter mir stehen noch 6 weitere Taxen. Sie klappert sie alle ab und wird überall abgewiesen. Arme Frau. Die Stadt ist randvoll mit Problemen, sagte ich das schon?!

Wenig später steigt mir ein behelmter Schimpanse mit 2 Rollkoffern und einer Kalaschnikow ein. Er will zum Planet der Affen. Kein Problem. Ich fahre ihn hin.

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